Als Julian aus der S-Bahn steigt, schaut er kurz über den Bahnsteig. Vor Schreck springt er hinter eine Litfaßsäule. Was soll das denn? Maurer ist aus dem letzten S-Bahn-Wagen gestiegen und kommt direkt auf ihn zu. Ob Hanna ihm verraten hat, dass er schwänzen wollte? Doch woher sollte Maurer wissen, dass Julian ausgerechnet zum Güterbahnhof fährt?

Maurer geht an der Litfaßsäule vorbei und zum anderen Ende des Bahnsteigs. Er schaut sich kurz um, dann springt er auf das S-Bahn-Gleis und über die niedrige Stromschiene. Der scheint das ja nicht das erste Mal zu machen, denkt Julian und schaut ihm neugierig nach.

Zuerst läuft Maurer in Richtung des abgebrannten Streckenhäuschens. Julian folgt ihm in weitem Abstand. Hinter einem kaputten Stromkasten wartet er, denn Maurer kommt jetzt langsam zurück. Als er neben dem verdeckten Eingang des Hauptquartiers der Gang steht, schaut er sich wieder kurz um. Dann hockt er sich hin und hebt das Blech hoch. Doch die Mädchen scheinen nicht da zu sein, sonst wären sie längst aus ihrem Bau geschossen.

Maurer lässt das Blech wieder herunter. Er öffnet seine Aktentasche und holt ein kleines Paket heraus, das er auf das Blech legt. Dann blickt er noch einmal über das Gelände und geht zum S-Bahnhof zurück.

Im selben Moment nimmt Julian plötzlich vorn bei den Lagerhallen eine Bewegung wahr. Die Kriegerin läuft geduckt über die schwarze Dachpappe. Vor einer der offenen Hallentüren entladen drei Männer einen Güterwaggon mit Zementsäcken. Sie haben das Mädchen noch nicht bemerkt, das wie eine Katze über ihnen schleicht. Sie sucht eine Stelle zum Hinabklettern. Es gibt aber keine. Das sieht Julian von seinem sicheren Versteck aus.

Als zwei der Männer endlich in der Lagerhalle verschwinden, nimmt sie plötzlich Anlauf und springt auf das Dach des Güterwaggons. Der große Schwung wirbelt sie aber gleich weiter, sodass sie vom Waggon auf die Erde saust. Dort schüttelt sie sich kurz und läuft dann zwischen den Büschen davon. Atemlos langt sie beim Hauptquartier an.

Langsam kommt Julian hinter dem Stromkasten hervor. Er weiß auch nicht, was ihn da geritten hat.

Verwundert schaut ihn die Kriegerin an. “Du scheinst deine Nase ja nicht besonders zu lieben!” Da entdeckt sie das kleine Paket auf dem Blech. Wütend funkelt sie ihn an. “Verstehe, du steckst mit dem Typ unter einer Decke!” Mit einem gezielten Tritt schießt sie ihm das Paket vor die Knie. Erschrocken zuckt er zusammen.

“Stullen, ja, das ist das Einzige, was euch Versagern einfällt!”

Julian hat keine Ahnung, worum es eigentlich geht. Aber beleidigen lässt er sich nicht. Schon gar nicht von einem Mädchen. Er schießt das Paket zurück, mitten in ihr Gesicht. Dabei fliegen die belegten Brote daraus in alle Richtungen.

Für Sekunden ist sie einfach nur sprachlos. Dann kommt sie langsam auf ihn zu. Julian rührt sich nicht von der Stelle. Ihr Gesicht kommt so dicht an seines heran, dass er ihre geschnaubte Wut auf der Haut spürt.

Vorsichtig ballt er seine Hände in den Hosentaschen. “Mit den Broten habe ich nichts zu tun”, sagt er ruhig.

“Und das soll ich dir glauben?” Sie tritt einen Schritt zurück.

Er schaut auf die verstreuten Stullen. Schwarzes Brot mit Körnern. “Wer isst schon so ein Ökozeug”, sagt er herablassend.

Sie beginnt zu lachen. Langsam entspannen sich seine Fäuste.

“Beweis es!”, sagt sie plötzlich.

“Was denn?” Julian wirft einen Blick über das Gelände, ob der Rest der Gang irgendwo im Anmarsch ist.

“Dass du nicht zu den Körnerfressern gehörst!”

Mein Gott, denkt er, jetzt soll er schon einem Mädchen beweisen, dass er was drauf hat. Julian Heymann, wie tief bist du gesunken.

“Kanntest du den Stullentyp?”

Julian schüttelt den Kopf.

“Und warum hast du dich dann wie eine Ratte vor ihm verkrochen?”

Julian fängt an zu stottern. “Ich hab heute die Exkursion geschwänzt. Der Typ ist mein Klassenlehrer und ich dachte …” Da dreht er sich um und geht. Einen Moment glaubt er, sie würde sich von hinten auf ihn stürzen.

“Loser!” Sie lacht plötzlich. “Du hast wohl mit dem Mitleid!”

Das letzte Wort trifft Julian wie ein Schuss zwischen die Schulterblätter. Er dreht sich um. “Mit dem bestimmt nicht! Wegen ihm bin ich sitzengeblieben!”

Die Kriegerin schnalzt mit der Zunge. “Das würde ich mir nicht gefallen lassen.”

“Wie meinst du das?” Für den Bruchteil einer Sekunde streift Julian der Gedanke, dass er im vergangenen Schuljahr kein einziges Mal Hausaufgaben gemacht hat, und er vielleicht selber ein wenig Schuld an seiner Misere ist. Doch allein die Aussicht, Maurer dafür bezahlen zu lassen, lässt grimmige Freude in ihm aufsteigen.

Die Kriegerin kommt ganz dicht an ihn heran. “Das ist aber nichts für Loser, das sage ich dir gleich.”